08.08.2016  Intern

Die Kühn-Variante

Julius Kühn, 23, ist zwar Europameister, doch international noch ein Nobody. Der Halblinke vom VfL Gummersbach traf dennoch sieben Mal beim Auftakt ins olympische Turnier gegen Schweden. „Manchmal gibt es Tage, an denen geht alles“, sagt er und bleibt doch demütig.

Die Kühn-Variante. Sie entstand am 27. Januar 2016 in Breslau, in einem Moment unter größtem Druck. Die deutschen Handballer standen im letzten EM-Hauptrundenspiel gegen Dänemark mit dem Rücken zur Wand, sie hatten lange nicht mehr getroffen und lag nun, acht Minuten vor ultimo, mit zwei Toren zurück, als Dagur Sigurdsson die Karte zur Auszeit legte.

Und dann sagte er diesen Spielzug an, der aus den achtziger Jahren stammt. „Freiwurf rausholen“, sagte er. „Und dann vier Leute in den Block, und dann kommt Julius.“ Und dann kam der Freiwurf, und dann kam Julius Kühn und stieg, von dem Quartett geschützt, in die Luft und hämmerte den Ball in den linken Winkel. Das war die Wende in diesem Spiel. Und der Weg war frei zum EM-Titel in Krakau. Dank der Kühn-Variante.

Es war damals erst das dritte Länderspiel des Profis vom VfL Gummersbach, er war für den verletzten Christian Dissinger (THW Kiel) in den Kader gerutscht, vom heimischen Sofa kommend. Aber Sigurdsson hatte den Mann vom Niederrhein schon lange auf dem Zettel, dem Trainer gefielen die Wucht und der Körper des jungen Kerls: Als der Isländer im September 2014 seinen ersten Kader benannte, war Kühn schon dabei.

Sieben Monate nach Breslau steht Kühn in der Future Arena in Rio de Janeiro und strahlt. Er, der vor vier Jahren noch in der 2. Bundesliga bei TuSEM Essen spielte, hat gerade sieben Tore geworfen gegen Schweden. Er, der erst elf Länderspiele auf dem Buckel hat und im Grunde immer noch international ein Nobody ist, war ein Schlüssel beim Auftaktsieg der deutschen Handballer in diesem olympischen Turnier.

„Überragend“ – so nannte Bob Hanning, Vizepräsident Leistungssport im DHB die Leistung des Halblinken. „Es gibt manchmal Tage, an denen geht alles“, sagt der 23-Jährige. Kühn berichtet, dass er einfach, nachdem die ersten Bälle drin waren, weitergeworfen habe. „Wenn es so gut läuft, dann ist da die Gier nach noch mehr.“

Wenn Kühn anlief und hochstieg und den Ball mit Wucht in die Maschen hämmerte, dann ging ein Raunen durch die rund 10.000 Fans in der Future Arena. Welche Wucht! Welche Kraft! Welches Selbstbewusstein! „Kraft spielt ein große Rolle“, sagt Kühn, der fast zwei Meter groß ist und zwei Zentner wiegt. „Handball ist ja ein sehr physischer Sport.“ Er, der beim TV Aldekerk am Niederrhein das Handballspiel erlernte, lächelt wieder. Er hat während der Partie manchmal die Gegner wie lästige Fliegen abgeschüttelt.

Es gab nach der EM einige Experten, die Kühn, auch wegen der simplen Variante gegen Dänemark, als tumben Steineschmeißer beschrieben haben, als reine Wurfschleuder im Rückraum. Diese Experten hat Kühn spätestens mit seinem Olympia-Debüt widerlegt. Kühn bediente nicht nur recht ordentlich den Linksaußen Uwe Gensheimer (Löwen). Vor allem aber präsentierte er sich auch als starker Anspieler an den Kreis, fast alle Pässe kamen an und führten dann zu Toren.

Auch gegenüber den Medien gibt sich Kühn keineswegs als Solist. „Wir haben heute gewonnen, weil wir einen starken, breiten Kader hatten“, sagt er. „Die Mannschaft hat heute sehr gut funktioniert. Wir haben uns richtig in das Turnier reingebissen.“ Und er zeigte sich demütig. Die Polen, am Dienstag (16.30 Uhr deutsche Zeit) der nächste Gegner, sei sehr ernst zu nehmen, so Kühn. „Ein guter Start ist wichtig, aber die anderen Mannschaften in unserer Gruppe sind auch sehr stark.“ Der Mann aus Gummersbach scheint bereit für die nächste Kühn-Variante.

E. Eggers