15.08.2016  Intern

Der höfliche Haudrauf

Finn Lemke, 24, zählt als Abwehrchef zu den Schlüsselfiguren im Konzept von Bundestrainer Dagur Sigurdsson. Ihn auf seine Defensivarbeit zu reduzieren, wäre allerdings ein Fehlurteil. Der Hüne vom SC Magdeburg ist vielmehr ein Mann für alle Fälle.

Er ist ein junger Mann mit perfekten Umgangsformen. Das stellte Finn Lemke schon bei seiner ersten Auslandsreise für die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) unter Beweis. Als der 2,10 Meter große Rechtshänder im Januar 2014 in Tunis ein starkes Länderspiel absolviert hatte und dafür vom Kollegen des Sportinformationsdienstes (sid) ein Lob erhielt, sagte Lemke: „Vielen Dank. Das ist sehr nett.“
 
Er wirkte damals, als er, noch 21jährig, noch das Trikot des TBV Lemgo trug, noch sehr, sehr schüchtern. Und auch seine Körpersprache auf dem Feld wirkte zuweilen negativ, wenn er mal einen Ball verwarf. Er haderte dann sehr mit sich. Inzwischen jedoch tritt Lemke deutlich selbstbewusster auf.
 
Der Europameistertitel in Polen, an dem er als Abwehrchef maßgeblich beteiligt war, verlieh ihm spürbar großes Selbstvertrauen und erhöhte auch sein Ansehen beim SC Magdeburg, wo er nach seinem Wechsel etwas verhalten begonnen hatte. Lemkes Nominierung für den Olympia-Kader stand nie in Frage. Er ist zu wichtig für die Defensive, in der bekanntlich Meisterschaften gewonnen werden.
 
Beim olympischen Turnier von Rio de Janeiro zählt Lemke nun, obwohl er erst 33 Länderspiele (19 Tore) auf dem Konto hat, zu den Schlüsselfiguren. Es wird in den großen Spielen, die nun kommen, zunächst im Viertelfinale sehr auf die Form des Abwehrchefs ankommen. „Mein Gefühl ist ganz gut“, sagte er nach dem 28:25-Sieg gegen Slowenien, der den Einzug in die Runde der letzten Acht bedeutete.
Zugleich verheimlichte Lemke nicht, wie brutal der olympische Takt mit Spielen alle zwei Tage für einen Profi wie ihn ist. „Mir tun ganz schön die Knochen weh“, bekannte er. „Die Regeneration ist nach solchen Spielen für mich immer sehr wichtig.“ Es ist nicht nur die reine physische Anstrengung, die Lemke auslaugt.
 
Als Turm im Schlachtzentrum räumt er, abwechselnd mit Hendrik Pekeler (Löwen), Patrick Wiencek (Kiel) und manchmal auch Julius Kühn (VfL Gummersback) die gefährlichste Zone manchmal auch mit brachialen Mitteln frei. Lemke ist, wenn man so will, ein höflicher Haudrauf. In den meisten Fällen kommt er mit fairen Methoden zum Erfolg. In den ersten vier Spielen kassierte er nur zwei Zeitstrafen, sogar Flügel Uwe Gensheimer (Paris) musste öfter auf die Bank.
 
Noch zehrender aber scheint für Lemke die mentale Anspannung. Der 24jährige verfällt vor solchen wichtigen Spielen in einen tranceartigen Zustand, der es für ihn unmöglich macht, direkt nach den Spielen irgendeine Szene zu reflektieren. Als er nach dem ersten Spiel gegen Schweden auf einen Ballgewinn angesprochen wurde, der den entscheidenden Abstand schuf, zuckte Lemke mit seinen Schultern und sagte: „Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich kann das nach Spielen nie. Ich kann diese Szenen erst in der Video-Nachbesprechung analysieren.“
 
Könnte sein, dass Lemke in Finalspielen auch im Angriff wichtig werden wird. Da ist ja nicht nur dieser gewaltige Wurf aus dem Rückraum, zu dem er fähig ist, wenn er aus vollem Lauf kommt. Lemke verfügt im Angriff zudem über eine grandiose Übersicht – seine Pässe auf den Rechtsaußen etwa, quer durch den Kreis gespielt, können eine Abwehr in Sekundenschnelle lächerlich machen. Auch den Kreisläufer hat Lemke stets im Blick, er verfügt über ein gutes Auge. Und bei diesem olympischen Turnier hat er, wenn Sigurdsson das neue Überzahlspiel anordnete, am Kreis gestanden – damit teilte er die Abwehr quasi in zwei Hälften.  
 
Lemke als reinen Abwehrspezialisten zu deklarieren, wäre also eine Fehleinschätzung. Der höfliche Haudrauf ist vielmehr ein Mann für alle Fälle.
 
E. Eggers